Luidger Röckrath[1]

Der Lawinenunfall im Jamtal aus zivilrechtlicher Sicht

aus: Jahrbuch „Sicherheit im Bergland“ 2002, S. 158

des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit

Die hohe Resonanz, die der Lawinenunfall im Jamtal in den allgemeinen Medien fand, beruhte auf der reinen Koinzidenz: Der Unfallort liegt im Gebiet der Gemeinde Galtür. Noch nicht einmal ein Jahr war seit der großen Lawinenkatastrophe vergangen, die den Ortskern von Galtür teilweise verwüstet und zahlreiche Menschenleben gefordert hatte. Der grundlegende Unterschied zwischen Skifahrer- und Katastrophenlawinen wurde dabei in der Berichterstattung meist übersehen.

Der Unfall im Jamtal sowie zwei weitere schwere Unfälle von geführten Gruppen mit zahlreichen Toten in der Wintersaison 1999/2000 (Kitzsteinhorn und Portlesspitze) haben die Diskussion um eine Neuorientierung in der praktischen Lawinenkunde wieder angefacht. Alle drei wären nach Auffassung von Munter durch konsequente Anwendung seiner Reduktionsmethode leicht vermeidbar gewesen. In der gerichtlichen Aufarbeitung des Jamtalunfalls mußten Straf- und Zivilgericht zu der Frage Stellung beziehen, ob Bergführer und Bergreiseveranstalter verpflichtet sind, strategische Entscheidungshilfen zu berücksichtigen und kamen zu entgegengesetzten Ergebnissen. Dieser Widerspruch hat zu einer gewissen Verunsicherung unter Bergführern und Tourenleitern geführt, die durch die folgenden Erläuterungen hoffentlich beseitigt werden kann.

I. Der Unfallhergang

Zunächst seien die Fakten kurz in Erinnerung gerufen.[2] Der DAV Summit Club – ein Tochterunternehmen des DAV - hatte zum Millenniumswechsel Skitouren- und Schneeschuhwanderwochen mit Rahmenprogramm auf zwei Alpenvereinshütten angeboten, die ausschließlich zu diesem Zweck ausnahmsweise in dieser Zeit geöffnet wurden.[3] Am 28.12.1999 kam es nahe der Jamtalhütte zu dem folgenschweren Lawinenabgang. 14 Teilnehmer der von 3 Bergführern geführten Tourengruppe mit insgesamt 24 Teilnehmern wurden verschüttet, 9 konnten nur noch tot geborgen werden. Die Lawine löste sich im Nordwesthang des Steinmandl (Teil der Seitenmoräne des Jamtalferners), die maximale Steilheit in der Lawinenbahn betrug 41 Grad. Eine Steilheit von mindestens 38 bis 39 Grad war für die ortskundigen Bergführer ohne weiteres erkennbar (felsdurchsetzte Seitenmoräne). Die Spur verlief durch den 25 bis 30 Grad steilen Auslauf des Hanges. Die Lawine war ein weiches Triebschneebrett, das sich aus einer Mulde, einer kleinräumigen Leestelle in dem der Hauptwindrichtung zugewandten Nordwesthang, löste. Der Unfallhang kann durch Ausweichen in den Talboden mit einem Zeitaufwand von wenigen Minuten umgangen werden. Entlastungsabstände wurden von den Bergführern der verunfallten Gruppen im Gegensatz zu den Führern der beiden anderen Gruppen weder bei der ersten noch bei der zweiten Begehung des Hanges angeordnet.

II. Das Innsbrucker Strafverfahren gegen die Bergführer

Auch durch eine umfangreiche Beweisaufnahme mit zahlreichen Zeugen konnten die genauen Umstände des Unfalls, insbesondere die Gefahrenlage, nicht vollständig aufgeklärt werden. Der Lawinenlagebericht (LLB) vom Morgen des Unfalltags gab für die Silvretta große Lawinengefahr (Stufe 4) an und warnte vor "zum Teil extremen Windverfrachtungen". Die Bergführer kannten den aktuellen LLB nicht, sie gingen (bis auf einen) nach eigenen Beobachtungen vor Ort von der Gefahrenstufe 3 bis 4 aus. Die maßgeblichen Umstände (Neuschneemengen, Wind, Sichtverhältnisse) ließen sich vom Gericht nicht zweifelsfrei klären.

Der Sachverständige kam aufgrund der vom Strafgericht teilweise nach dem Zweifelsgrundsatz zu Gunsten der angeklagten Bergführer unterstellten Tatsachen zu den folgenden Schlußfolgerungen: Lokal hätte abweichend vom LLB nur die Gefahrenstufe 3+ "Gespannter Dreier" geherrscht. Die erste Begehung des späteren Unfallhangs am Morgen sei „gerade noch zu rechtfertigen gewesen“; der Verzicht auf Entlastungs- bzw. Sicherheitsabstände trotz offenkundiger Gefahrenzeichen sei allerdings nicht angemessen gewesen, da die Situation noch zu erkunden gewesen sei. Die zweite Begehung des Hangs, die zu dem Unglück führte, sei zu verantworten gewesen, weil der Hang durch die Erstbegehung schon getestet gewesen sei; ein Verzicht auf die erneute Begehung würde „als geradezu übermenschliche Leistung“ erscheinen.[4] Das Strafgericht hat sich im wesentlichen, wenn auch nicht in allen Punkten, diesen Schlußfolgerungen des Sachverständigen, die schon eine rechtliche Bewertung beinhalten, angeschlossen und die Bergführer nach dem Zweifelsgrundsatz freigesprochen.[5]

III. Die Entscheidung des OLG München in der Zivilsache

Eine Teilnehmerin, die selbst schwer verletzt und deren Ehemann getötet wurde, hat gegen den DAV Summit Club in München Klage auf Schadensersatz erhoben.[6] Das OLG München hat als Berufungsgericht in einer viel beachteten Entscheidung der Klage dem Grunde nach stattgegeben.[7] Strafbarkeit und Schadensersatzpflicht setzen im vorliegenden Fall gleichermaßen ein Verschulden voraus. Im Mittelpunkt der folgenden Analyse der Entscheidung steht daher die Frage, aus welchen tatsächlichen und rechtlichen Gründen Straf- und Zivilgericht die Verschuldensfrage unterschiedlich beurteilt haben. Nach ein paar grundsätzlichen Bemerkungen zu Beweislast, Verschuldensbegriff und Vorhersehbarkeit werden die Erwägungen des OLG im einzelnen untersucht (unten 4).

1. Beweislast im Schadensersatzprozeß

Wie schon erwähnt, waren die tatsächlichen Umstände des Unfalls nicht restlos aufklärbar. Beweislastregeln bestimmen, welche Prozeßpartei das Risiko der Unaufklärbarkeit trägt. Im rechtsstaatlichen Strafverfahren gilt der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“. Im Zivilprozeß gelten differenzierte Regeln für die Verteilung der Beweislast. Grundsätzlich trägt derjenige, der Schadensersatz begehrt, die Beweislast für das Verschulden. Oft befindet sich der Geschädigte insoweit in einer typischen Beweisnot, da es sich um Umstände aus der Sphäre des Schädigers handelt. Daher kehrt das Gesetz in bestimmten Fällen die Beweislast um: Der Verursacher des Schadens muß den Entlastungsbeweis fehlenden Verschuldens führen, um der Haftung zu entgehen.

Der Jamtalunfall ereignete sich während einer Pauschalreise. Für Pauschalreisen gelten in Deutschland und Österreich besondere gesetzliche Bestimmungen,[8] die auf der EU-Pauschalreiserichtlinie beruhen. Kommt ein Pauschalreisender im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Reiseleistung (hier während einer geführten Tour) zu Schaden, muß der Reiseveranstalter den Beweis führen, daß weder ihn noch einen seiner Mitarbeiter oder Leistungsträger[9] ein Verschulden trifft, um der Schadensersatzhaftung zu entgehen.[10] Für eine Klage gegen die Bergführer nach österreichischem Recht würde das gleiche gelten.[11]

2. Verschulden als objektive Sorgfaltswidrigkeit

Im vorliegenden Fall geht es um Verschulden in Form von Fahrlässigkeit. Fahrlässigkeit ist die Mißachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Es gilt ein objektiver Maßstab, da es um angemessenen Schadensausgleich geht. Der Vorwurf der Fahrlässigkeit beinhaltet daher nicht notwendig einen persönlichen Schuldvorwurf. Es ist auf einen besonnenen und gewissenhaften Angehörigen des jeweiligen Berufskreises abzustellen. Welche Sorgfaltsmaßnahmen im Einzelfall zur Schadensvermeidung erforderlich sind, bestimmt sich bei Fehlen einschlägiger Rechts- oder Verkehrsnormen in umfassender Abwägung der Umstände des Einzelfalls. Maßgeblich sind insbesondere die Bedeutung des gefährdeten Gutes, der Grad seiner Gefährdung, die Erkennbarkeit der Gefahr und die wirtschaftliche Zumutbarkeit von Vorsichtsmaßnahmen. Üblichkeiten können ein gewisse Indizwirkung haben, sind aber nicht allein entscheidend. Gefährliche Routinen schleifen sich zuweilen ein, entschuldigen können sie nicht.[12]

Die Verschuldensfrage ist eine vom Gericht zu beurteilende Rechtsfrage. Der Sachverständige unterstützt das Gericht mit seinem Fachwissen bei der Ermittlung der dazu erforderlichen Tatsachen (z.B. Kausalzusammenhänge, Erkennbarkeit von Gefahren etc.). Das Gericht ist verpflichtet, das Gutachten des Sachverständigen im Hinblick auf die zu entscheidende Rechtsfrage eigenständig zu würdigen, es ist nicht an die Ergebnisse des Gutachtens gebunden.[13] Diese an sich klare funktionale Trennung zwischen Gericht und Sachverständigen wird in der Praxis zuweilen verwischt. Sachverständige beschränken sich nicht immer auf ihre Hilfsfunktion bei der Ermittlung entscheidungserheblicher Tatsachen, sondern nehmen selbst Bewertungen vor und ziehen Schlußfolgerungen über Rechtsfragen - z.B. das Verschulden.[14] Gerichte sind durch derartige Äußerungen nicht gebunden, tendieren aber zuweilen dazu, sie ungeprüft zu übernehmen.

Der Sachverständige im Strafverfahren hat eine eigenständige Gesamtwürdigung der Situation vorgenommen. Dabei hat er Wahrnehmungsfehler und psychologische Entscheidungsfallen berücksichtigt, die nach dem objektiven Sorgfaltsmaßstab nicht entlastend wirken: Verführerische Hüttennähe; ein durch kollektive Einstimmigkeit bewirktes Gefühl höchster Sicherheit; verführerischer Eindruck fehlender zusammenhängender Schneeflächen; psychologisch nachvollziehbar und plausibel. Ein Bergführer darf in Hüttennähe nicht anders entscheiden, wie auf dem Gipfel, es kommt nicht darauf an, ob seine Entscheidungen psychologisch nachvollziehbar und plausibel sind, sondern wie ein gewissenhafter und besonnerer Bergführer sich in der gegebenen Situationen korrekt verhalten soll.

3. Vorhersehbarkeit

Die Vorhersehbarkeit der Gefahr ist für den zivilrechtlichen Fahrlässigkeitsvorwurf erforderlich, da unerkennbaren Gefahren niemand vorbeugen kann. Aber gerade bei der gerichtlichen Aufarbeitung von Lawinenunglücken wird der Begriff der Vorhersehbarkeit oft irreführend verwendet. Der Staatsanwalt argumentiert, die Lawine sei vorhersehbar gewesen, die Verteidigung behauptet das Gegenteil. Es ist zwischen der abstrakten Vorhersehbarkeit einer Gefahr ihrer Art nach und dem Grad der Gefahr zu unterscheiden. Beide Begriffe haben unterschiedliche Funktionen. Die Lawinengefahr ist im verschneiten Gebirge stets in verschiedenen Graden gegeben und daher allgemein, d.h. ihrer Art nach, vorhersehbar. Das Nicht-Vermeiden einer allgemein vorhersehbaren Gefahr ist jedoch keine Fahrlässigkeit. Das Lawinenrisiko wird bei jeder Tour im winterlichen Gebirge bis zu einem gewissen Grad bewußt eingegangen. Fahrlässigkeit ist nur gegeben, wenn das Verhalten nicht der konkreten Gefährdungssituation angepaßt ist. Die konkrete Vorhersehbarkeit - der Grad der Gefährdung – ist ein Abwägungsfaktor. Anders ausgedrückt, das alpine Restrisiko ist nicht die unvorhersehbare, sondern die bewußt und notwendigerweise in Kauf genommene, selbst bei adäquater Sorgfalt unvermeidbare Gefahr.

Die Redeweise "Die Lawine ist nicht vorhersehbar gewesen" kann sinnvollerweise nur bedeuten, der Grad der Gefahr sei unter den konkreten Umständen nicht erkennbar gewesen. Hier liegt der Kern des Problems. Von Rechts wegen ist gegenüber einer grundsätzlich bekannten, aber konkret schwer einschätzbaren Gefahr gesteigerte Vorsicht geboten. Nach Ansicht des OGH erfordert „eine Situation, in der eine akute Lawinengefahr zwar nicht ohne weiteres erkennbar, eine latente Lawinengefahr aber keineswegs mit Sicherheit auszuschließen ist ... schon nach dem Ingerenzprinzip eine umso größere Vorsicht und damit zumindest die Anordnung eines lawinengemäßen Verhaltens, durch das alle, wenngleich vorerst nur hypothetischen Gefahrenmomente verringert oder ausgeschaltet werden.“[15]

Einen vollständigen Verzicht bei geringsten Zweifeln fordert auch die Rechtsprechung nicht, aber gerade wegen der schwierigen Erkennbarkeit der konkreten Gefahr muß im Zweifel zumindest die weniger gefährdete Route zum gleichen Ziel gewählt, müssen im Zweifel Entlastungsabstände angeordnet werden.[16] Das „absolute Sicherheitsgefühl“ der Bergführer im Jamtal trotz „offenkundiger Gefahrenzeichen“ erschien auch dem Sachverständigen weder „nachvollziehbar“ noch „angemessen“. Es bestand ausreichender Anlaß, den sicheren Umweg durch den Talboden zu nehmen oder zumindest Abstände anzuordnen.

4. Die einzelnen Versäumnisse

Das Zivilgericht sieht vor allem drei Fehler der Bergführer: (1) die Querung des Lawinenhanges bei großer Lawinengefahr trotz einfacher Umgehungsmöglichkeit, (2) die Nichteinholung des Lawinenlageberichts und (3) die unterlassene Anordnung von Entlastungsabständen[17]

a) Vermeidbare Querung eines 41 Grad steilen Hanges bei Stufe 3-4

Die Touren wurden im Reiseprospekt als sanft und sicher angepriesen, was rechtlich bindend ist. Das OLG geht davon aus, daß die durch das Angebot gezielt angesprochenen, unerfahrenen Anfänger diese Beschreibung nicht als abstrakte Charakterisierung des Tourengebiets, sondern als Versprechen größtmöglicher Sicherheit bei der konkreten Tourendurchführung verstehen mußten und durften.[18] Die Wahl einer Route, die bei der ersten Begehung "gerade noch zu rechtfertigen" und bei der Rückkehr nur deshalb „verantwortbar“ ist, weil zufälligerweise bei der ersten Begehung nichts passiert ist, genügt nicht dem vertraglichen Versprechen "sicherer" Anstiege. Bei Touren im winterlichen Hochgebirge besteht stets ein latentes Lawinenrisiko. Wer eine sanfte und sichere Tourenwoche bucht, kann legitimerweise darauf vertrauen, daß dieses Risiko auf das absolut unvermeidliche Maß begrenzt wird. Aus dieser Reisebeschreibung ergibt sich ein Gebot der Risikominimierung, wenn man ein solches nicht sinnvollerweise sowieso generell annehmen will. Durch einen Umweg von wenigen Minuten konnte der Lawinenhang im sicheren Abstand umgangen und damit das Unfallereignis ohne weiteres vermieden werden. Die Querung des lawinengefährdeten Steilhanges verletzte das Gebot der Risikominimierung ungeachtet der Tatsache, ob für die Bergführer eine konkrete Gefahr erkennbar war. Die Lawinenlage war allgemein angespannt und den Bergführern mußte bekannt sein, daß die Begehung eines 41 Grad steilen Hanges bei mindestens Gefahrenstufe 3-4 ein stark erhöhtes Gefahrenpotential birgt, das zumindest bei einer sanften und sicheren Tourenwoche unbedingt zu meiden ist.

b) Unterlassene Konsultation des Lawinenlageberichts

Die Bergführer unterließen es, den für den Unfalltag ausgegebenen Lawinenlagebericht (LLB) für Tirol abzurufen, der nicht nur die Gefahrenstufe 4 für die Silvretta angab, sondern zusätzlich ausdrücklich vor gefährlichen Triebschnee­ansammlungen aufgrund von extremen Windverfrachtungen warnte. Die später ausgelöste Lawine war ein Triebschneebrett, das sich aus einer eingewehten Mulde löste, entsprach also der konkreten Warnung. Die höchsten Gerichte Österreichs und der Schweiz haben schon mehrfach entschieden, daß der LLB vom Bergführer stets zu konsultieren ist.[19] Der Bergführer ist zwar berechtigt und verpflichtet, den LLB anhand der lokalen Verhältnisse zu überprüfen, aber bei großer Gefahr sind an die lokale Absenkung der Gefahrenstufe besonders strenge Anforderungen zu stellen. Zumindest sind die eigenen Wahrnehmungen mit den Zusatzinformationen im LLB zu vergleichen, das bloße Fehlen von akuten Alarmzeichen reicht auf keinem Fall.[20] Ob die lokalen Verhältnisse eine Absenkung der Gefahrenstufe des LLB erlaubten, blieb letztlich ungeklärt. Während diese Zweifel sich im Strafverfahren zu Gunsten der Bergführer auswirkten, mußte das Zivilgericht davon ausgehen, daß die im LLB für die Silvretta ausgegebene Gefahrenstufe auch für das Gebiet um die Jamtalhütte zutreffend war, weil das Gegenteil nicht bewiesen werden konnte.

c) Entlastungsabstände

Der Sachverständige nahm an, daß die Lawine mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von der Gruppe fernausgelöst und die Einhaltung von Entlastungsabständen den Lawinenabgang verhindert hätte.[21] Nach seiner Ansicht wäre zumindest bei der ersten Begehung die Anordnung von Entlastungsabständen erforderlich gewesen. Hinsichtlich der entscheidenden zweiten Begehung hat er im schriftlichen Gutachten ausgeführt, daß aus „streng lawinenkundlicher Sicht“ Abstände erforderlich gewesen wären. Nach der Beweisaufnahme hat er dies relativiert. Von diesen Schlußfolgerungen des Gutachters konnte das OLG mit guten Gründen abweichen, da sie zum einen auf strafprozessualen Zweifelsfeststellungen und auf zum anderen auf rechtlichen Bewertungen beruhen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist insoweit durchaus strenger und verlangt Entlastungsabstände schon dann, wenn nach pflichtgemäßer Sorgfalt die Lawinengefahr nicht sicher ausgeschlossen werden kann.[22]

d) Zusammenfassung

Daß das Zivilgericht zu anderen Schlußfolgerungen kommt als das Strafgericht, beruht demnach nur zum Teil auf der unterschiedlichen Beweislastregelung in beiden Verfahren, zum Teil aber auch auf einer anderen rechtlichen Bewertung von unstreitigen Tatsachen. Eine Entscheidung, die unter Berücksichtigung der „verführerischen Hüttennähe“ und ähnlicher Aspekte vom Sachverständigen als gerade noch akzeptabel gewertet wurde, genügt nicht dem streng objektiven zivilrechtlichen Sorgfaltsmaßstab, der hier durch das vertragliche Versprechen „sanfter und sicherer Touren“ zusätzlich verschärft wurde.

5. Organisationsmängel auf Seiten des DAV Summit Club

Aus Gründen, die im vorliegenden Zusammenhang nur angedeutet werden können,[23] mußte der Senat prüfen, ob dem DAV Summit Club auch ein eigenes Verschulden anzulasten ist. Der Senat stellt fest, daß der DAV Summit Club eine eigene Organisationspflicht verletzt hat, indem er versäumt hat, den Bergführern Anweisungen für das Verhalten bei Lawinengefahr zu geben, insbesondere keine Entscheidungsstrategie vorgeschrieben hat.[24]

Es würde im vorliegenden Zusammenhang zu weit führen, die Entstehungsgründe und Reichweite von Organisationspflichten als Ausprägungen der sogenannten Verkehrspflichten, sowie die reiserechtlichen Besonderheiten, im einzelnen zu erläutern. Es handelt sich um Kategorien, die das allgemeine Gebot konkretisieren, andere nicht schuldhaft, also vermeidbar zu schädigen. Der BGH hat jüngst in einer vergleichbaren Fallkonstellation (Spaltensturz beim Helikopter-Skilauf auf einem Gletscher) den Inhalt der Verkehrspflichten folgendermaßen umrissen: Der Veranstalter von Ski-Urlaubsreisen ist verpflichtet, „die geschuldeten Reiseleistungen so zu organisieren und zu erbringen, daß eine über das bei Skiabfahrten bestehende allgemeine Risiko hinausgehende Gefährdung der Reiseteilnehmer ausgeschlossen ist.“[25] Der Inhalt von Verkehrspflichten läßt sich nur durch eine umfassende Interessenabwägung im Einzelfall ermitteln.

a) Der sogenannte Paradigmenwechsel in der praktischen Lawinenkunde

Der tatsächliche Hintergrund, der sogenannte Paradigmenwechsel in der praktischen Lawinenkunde, darf als bekannt vorausgesetzt werden.[26] Die zunächst von Munter entwickelte Idee eines probabilistischen Entscheidungsverfahrens wurde von Larcher (Stop or Go)[27], Engler (AV-Snowcard) und anderen aufgegriffen und weiterentwickelt. Das im winterlichen, verschneiten Gebirge stets gegebene Lawinenrisiko kann objektiv abgeschätzt und begrenzt werden. Der gefährliche und verführerische Trugschluß vom Fehlen unmittelbar sinnlich wahrnehmbarer Gefahrenzeichen auf sichere Verhältnisse kann durch derartige Strategien vermieden werden.

Hauptparameter in diesen strategischen Entscheidungsverfahren sind Gefahrenstufe und Hangneigung. Das Konzept der Hangneigungslimits hat Munter zunächst mit der elementaren Reduktionsmethode vorgestellt, welche die "Stop or Go"-Strategie als Munter-Baustein übernommen hat. Durch Einbeziehung zusätzlicher Parameter (z.B. Exposition, Gruppengröße etc. bei der voll entwickelten Reduktionsmethode) kann die Entscheidung verfeinert und damit der Handlungsspielraum erweitert werden.

Die Risikoformel der Reduktionsmethode nach Munter ergibt für die Begehung des Unfallhanges am Unfalltag einen Wert von mindestens 5, wenn zu Gunsten der Bergführer die Gefahrenstufe 3+ (statt LLB 4) und die Hangneigung 38 Grad (statt real 41) angenommen wird. Das nach Munter akzeptable Restrisiko wurde damit um mindestens 400 % überschritten.[28] Munter hat als Privatgutachter des DAV Summit Club ausgeführt, daß der Jamtalunfall durch Anwendung seiner Methode zweifellos vermeidbar gewesen wäre.[29] Auch die anderen Strategien (AV-Snowcard, Stop or Go) hätten die Begehung des Unfallhangs unter den herrschenden Verhältnissen nicht zugelassen, weil sie mit einem stark überhöhten Risiko verbunden war.

Der DAV Summit Club hat nach einer Expertendiskussion im September 2000 „Verbindliche Standards im Winter“ für seine Bergführer eingeführt. Zentraler Bestandteil der Standards[30] ist, daß die Reduktionsmethode von Munter – mit geringfügigen Modifikationen – als maßgebliche Entscheidungsstrategie vorgeschrieben wird.[31]

Die Kritik an der Reduktionsmethode oder ähnlichen Strategien führt im wesentlichen die folgenden Argumente ins Feld: Sie beruhe auf einer nicht repräsentativen Unfallstatistik, könne die klassische Beurteilung nicht ersetzen, sondern setze ein ordentliches Basiswissen über Schnee- und Lawinenkunde voraus. Die Parameter Gefahrenpotential und Hangneigung u.a. seien nicht mit der erforderlichen Genauigkeit zu ermitteln.[32]

Gerade der Jamtal-Unfall zeigt die unabdingbare Notwendigkeit klarer Entscheidungskriterien. Auch nach Ausschöpfung aller Spielräume und Unwägbarkeiten zugunsten der Bergführer (s.o.) bleibt ein Restrisiko von 5. Dieses extrem überhöhte Risiko soll nach Meinung des Sachverständigen trotz „offenkundiger Gefahrenzeichen“ klassisch nicht erkennbar gewesen sein. Offensichtlich ist die klassische Bewertung deutlich anfälliger für Fehleinschätzungen, mögen sie nun auf Wahrnehmungsfehlern oder psychologischen Entscheidungsfallen beruhen. Die modernen Strategien sind zumindest ein wertvolles Kontroll- und Planungsinstrument, um solche gravierenden Fehleinschätzungen wie im Jamtal zu vermeiden. Daß Hangneigungen schwer bis auf ein Grad genau bestimmt werden können, ist kein durchgreifender Einwand. Auch bei der klassischen Beurteilung ist die geschätzte Steilheit des Geländes zu berücksichtigen. Die Strategien sollen keine nicht erreichbare mathematische Exaktheit vortäuschen, sondern lediglich der Potenzierung von Schätz- und Bewertungsfehlern vorbeugen, indem sie für die Verknüpfung der einzelnen, gegebenenfalls geschätzten Parameter klare Vorgaben machen. Der Anwender muß selbstverständlich der Versuchung widerstehen können, Schätzspielräume bei allen Parametern zu seinen Gunsten auszunutzen und sich damit einen „Hang schön zu rechnen“. Selbst mit dieser Methode hätte im Jamtal das Restrisiko nicht unter 5 gedrückt werden können.

b) Rechtliche Bewertung

Wie sind diese Entwicklungen rechtlich zu bewerten? Larcher hat als Sachverständiger im Strafverfahren die Ansicht vertreten, daß die Munter-Methode zumindest in Österreich zum Zeitpunkt des Unfalls kein „allgemein anerkanntes, gebräuchliches“ Verfahren gewesen sei und deshalb ihre Nicht- bzw. falsche Anwendung den Bergführern nicht zum Vorwurf gemacht werden dürfe. Das Strafgericht ist ihm insoweit gefolgt, mahnte aber die stärkere Berücksichtigung dieser Methoden in der Zukunft an.[33] Das Zivilgericht ist aus verschiedenen Erwägungen zur gegenteiligen Schlußfolgerung gekommen.

Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, daß es nicht auf den Meinungsstand in Österreich, sondern auf denjenigen in Deutschland, insbesondere im DAV ankommt, da die Reise vom DAV Summit Club – der "Bergsteigerschule des DAV“ - mit „DAV Summit Club Bergführern“ durchgeführt wurde. In den Ausbildungsgremien des DAV stand man der Munter-Methode von Anfang sehr aufgeschlossen gegenüber. Schon im offiziellen Alpin Lehrplan des DAV und des Deutschen Berg- und Skiführerverbands von 1998 wird die Anwendung der Reduktionsmethode nach Munter vorgeschrieben, da nur sie „eine eindeutige Entscheidung erlaub[e].“[34] Inzwischen hat sich die anfängliche Begeisterung[35] für die Munter-Methode vielleicht wieder geringfügig abgeschwächt, aber die Entwicklung wurde konsequent in die von Munter vorgegebene Richtung zu einem rationalen Risikomanagement vorangetrieben. Engler und Mersch, Mitglieder des Bundeslehrteams des DAV, haben aus ihrer Praxiserfahrung mit der Munter-Methode als deren Fortentwicklung die AV-Snowcard entwickelt.[36]

Der Pluralismus der Strategien darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in einigen Kernaussagen einen weitgehenden Konsens gibt. Dieser betrifft zunächst die Defizite der klassischen Einzelhangbeurteilung. Um klassisch nicht oder nur schwer wahrnehmbare Gefahrenlagen zu erkennen und zu vermeiden, ist eine Risikoabschätzung und -begrenzung nach objektiven, leicht feststellbaren Parametern erforderlich. Munter hat als erster diese Diagnose gestellt und gleichzeitig mit der Reduktionsmethode die Therapie vorgestellt. Damit hat er den entscheidenden Anstoß für eine rasante Entwicklung in der praktischen Lawinenkunde gegeben, die durch andere aufgegriffen und weitergeführt wurde. Seine Lehre kann sicherlich nicht als Außenseiterposition eines Dissidenten abgetan werden; sie ist vielmehr Grundlage aller neueren Ansätze.

Die Rechtsordnung kann bei einem Wandel der Lehrmeinungen nicht solange zuwarten, bis sich eine neue allgemein anerkannte Lehrmeinung herausgebildet hat. Grundsätzlich sind nicht nur die allgemein anerkannten Regeln der Technik, sondern der Stand von Wissenschaft und Technik maßgeblich. Zum Stand von Wissenschaft und Technik gehören nicht nur die in den Fachkreisen allgemein als gesichert angesehenen Erkenntnisse, sondern auch neue Forschungsergebnisse, die begründete Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit des "geltenden" Standes von Wissenschaft und Technik wecken. Von einem führenden Spezialunternehmen wird erwartet, daß es derartige neue Erkenntnisse selbständig prüft und gegebenenfalls die erforderlichen Konsequenzen zieht.[37] Die Erkenntnisse Munters waren seit 1997 allgemein zugänglich und wurden schon 1998 in den offiziellen Alpin-Lehrplan des DAV übernommen.

Es ist auch zu berücksichtigen, welche Sicherheitserwartung der Veranstalter beim Reisenden weckt. Diese wird durch die Katalogbeschreibung (sanft und sicher, für Anfänger geeignet) und dadurch geprägt, daß der Summit Club im gleichen Katalog Lawinenkurse u.a. mit der Munter-Methode anbot. Das OLG verweist zu Recht darauf, daß kein Grund dafür ersichtlich ist, daß es erst nach dem Unfall möglich war, verbindliche Standards nach den Erkenntnissen Munters einzuführen.[38]

Unter umfassender Abwägung dieser Umstände konnte das OLG mit guten Gründen zu dem Ergebnis kommen, daß der Summit Club schon vor dem Unglück seinen Bergführern eine bindende Entscheidungsstrategie hätte vorschreiben müssen, um einen derartigen Unfall zu vermeiden.

IV. Restrisiko - Eigenverantwortung im Bergsport

Verantwortung für das eigene Tun und die bewußte Übernahme des alpinen Restrisikos durch den Ausübenden sind zentrale ethische Grundprinzipien des Bergsports. Bei geführten Touren wird jedoch die Eigenverantwortung von der Fremdverantwortung überlagert. Die Grenze markiert die Kategorie der Sorgfaltswidrigkeit. Ob sich ein Restrisiko verwirklicht hat, läßt sich nur negativ feststellen, indem vermeidbares Fehlverhalten ausgeschlossen wird.

Die Grenze zwischen Eigen- und Fremdverantwortung, Restrisiko und Verschulden ist nicht starr, sondern nach der Präsentation des Angebots („sichere und sanfte Anstiege") und der konkreten Risikoaufklärung des Reisenden zu bestimmen.[39] Dies gilt im besonderen Maße für die Lawinengefahr, die bei Wintertouren in unterschiedlichen Graden stets gegeben ist. Der Gast kann legitimerweise erwarten, daß der Bergführer durch seine Ausbildung, Erfahrung und Gebietskenntnis zwar keine absolute, aber dennoch ein Höchstmaß an Sicherheit gewährleistet. Eilfertige und zweifelhafte Entschuldigungen nach Unfällen auf geführten Touren beschädigen den Anspruch hoher Professionalität, der von der weit überwiegenden Mehrzahl der Bergführer erfüllt wird.

Es muß jedoch vermieden werden, daß durch eine Überspannung von Sorgfaltspflichten die Grenze zwischen Eigen- und Fremdverantwortung in unzulässiger Weise verschoben wird. Das OLG München spricht dieses Problem explizit an. Es ist der Meinung, die Anforderungen an einen führenden Spezialveranstalter nicht zu überspannen, wenn es von ihm verlangt, den sicherheitstechnischen Diskurs in den Fachkreisen zu beobachten und frühzeitig in eigene Konzepte umzusetzen. Eine unklare und in vielen Fällen konkret schwer abschätzbare Gefährdungslage erfordert umfassende Sicherheitsvorkehrungen gegenüber der latenten Gefahr. Das erforderliche Instrumentarium eines rationalen Risikomanagements war in den einschlägigen Fachkreisen seit Jahren bekannt und hätte rechtzeitig umgesetzt werden können. Da der DAV Summit Club nicht den Sicherheitsstandard erfüllt hat, den die Reisenden nach der Darbietung der Reise berechtigterweise erwarten durften, hat sich in dem Unfall kein bergsportimmanentes Restrisiko realisiert.

V. Konsequenzen aus dem Jamtalurteil

1. Für das Führungsverhalten: Strategie und Transparenz

Die Bedeutung des Jamtalurteils für die Praxis sollte nicht überschätzt werden. In der Revision wird im wesentlichen darum gestritten, welche Bedeutung moderne Entscheidungsstrategien zum Zeitpunkt des Unfalls (Ende 1999) hatten. Daß sie in Zukunft nicht mehr ignoriert werden dürfen, kann kaum noch ernsthaft bestritten werden. Der Verband Deutscher Berg- und Skiführer (VdBS) hat am 17.11.2001 beschlossen, die vom DAV Summit Club für seine Bergführer verbindlich eingeführten Standards ein Jahr lang zu erproben. Der Österreichische Berg- und Skiführerverband begrüßt die Idee einer Obergrenzenempfehlung und wird an der Weiterentwicklung aktiv mitarbeiten.[40] In der Schweiz ist die Munter-Methode schon anerkannte Verkehrsnorm.[41] Der Lawinenunfall im Jamtal und die folgenden gerichtlichen Auseinandersetzungen haben als Katalysator die seit Jahren im Gang befindliche Entwicklung beschleunigt.

Die zuweilen geäußerte Befürchtung, die Führungstätigkeit werde durch derartige Standards stark eingeschränkt, ist unbegründet. Stimmt der Gast nach konkreter und spezifischer Aufklärung der Überschreitung der Limits und damit der Eingehung eines höheren Risikos zu, kann der Bergführer bei einem Unfall nicht verantwortlich gemacht werden. Dies gilt jedoch nur für Gäste, die über eigene Erfahrung und Verständnis für die Problematik in einem ausreichenden Maße verfügen, so daß sie nach entsprechender Aufklärung wirksam zustimmen können. Bei Anfängergruppen und Ausbildungskursen muß die Einhaltung der vorgegebenen Limits, schon wegen der Vorbildfunktion, die Regel sein.

Wenn ein transparenter Führungsstil auf Grundlage einer Entscheidungsstrategie unter Einbeziehung des Gastes gepflegt wird, können Haftungsrisiken weitgehend ausgeschlossen werden. Sicherheitsversprechen, die nicht eingehalten werden können, müssen unbedingt vermieden werden. Im Gegenteil muß dem Gast klar kommuniziert werden, daß bestimmte alpine Risiken (z.B. auch die Spaltensturzgefahr bei Skitouren) auch durch fachlich korrekte Führung nicht vollständig beherrscht werden können.[42] Dies kann auch durch inhaltlich klare und nicht zu übersehende Hinweise im Reiseprospekt geschehen (vgl. "Ein offenes Wort unter Bergsteigern" in den Katalogen des DAV Summit Club nach dem Unfall).

2. Rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten

Schadensersatzprozesse sind für alle Beteiligten riskant. Ihr Ausgang ist schwer vorhersehbar, da er von vielen „weichen Faktoren“ abhängt. Verschulden, Verkehrspflichtverletzung etc. sind sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe, die der Richter unter umfassender Würdigung der Umstände des Einzelfalls konkretisieren muß. Hinzu kommen oft Unklarheiten auf tatsächlicher Seite, deren Auswirkungen auf den Prozeß sich nach differenzierten Beweislastregeln bestimmt. Wegen dieser Unwägbarkeiten kann die unterlegene Partei ihre Hoffnung auf die nächste Instanz setzen; langjährige Prozesse durch alle Instanzen mit hohem Kostenrisiko sind vorprogrammiert. Der alpinen Führungskraft nimmt die hoffentlich vorhandene Haftpflichtversicherung[43] dieses Risiko ab, der Kläger prozessiert auf eigenes Risiko, falls er keine entsprechende Rechtsschutzversicherung unterhält. Vorrangiges Ziel aller Beteiligten nach einem tragischen Alpinunfall muß daher die Prozeßvermeidung sein. Es sollte alles daran gesetzt werden, unter Einbeziehung der Versicherung eine außergerichtliche Lösung zu erreichen. Dem Geschädigten oder seinen Hinterbliebenen muß Gesprächsbereitschaft signalisiert werden.

Die Haftung für Personenschäden kann vertraglich nur sehr schwer beschränkt werden. Durch vorformulierte, sogenannte allgemeine Geschäftsbedingungen und im Verkehr mit Konsumenten[44] sind derartige Beschränkungen praktisch unmöglich, auch wenn der Schaden nur auf leichter Fahrlässigkeit beruht.[45] Ob zumindest für das Tourenwesen der alpinen Vereine etwas anderes gilt, ist umstritten. Regelungen, die das vereinsrechtliche Mitgliedschaftsverhältnis betreffen, unterliegen nicht im gleichen Maße der Inhaltskontrolle wie Austauschbeziehungen zwischen dem Verein und seinen Mitgliedern. Die starke Dienstleistungsorientierung vieler, insbesondere der sehr großen Sektionen könnte sich insoweit negativ auswirken. Sinnvoll ist es in jedem Fall, derartige Regelungen schon in die Satzung und nicht nur in die Bedingungen für die Teilnahme an Kursen und Touren aufzunehmen. Die wenige existierende Rechtsprechung ist uneinheitlich; Haftungsbeschränkungen für die gemeinsame Ausübung von Risikosportarten im Verein werden teilweise für zulässig, teilweise für unzulässig erachtet.[46]

VI. Schlußbemerkung

Schwere Alpinunfälle mit zahlreichen Toten führen fast zwangsläufig zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Es ist wenig hilfreich, dies auf eine angeblich um sich greifende Vollkaskomentalität zu schieben. Der Schutz des Lebens ist die vornehmste Aufgabe des Staats und der Rechtsordnung. Die Grenzen zwischen erlaubtem Risiko und rechtlicher Schuld sind bei Lawinenunfällen beweglich und auch von Wertungen abhängig. Sie können nur im offenen Diskurs zwischen Juristen und Fachwissenschaftlern bestimmt werden, wozu dieser Aufsatz vielleicht einen kleinen Beitrag leisten kann.

Abkürzungsverzeichnis

ABGB = Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreich)
BGB = Bürgerliches Gesetzbuch (Deutschland)
BGH = Bundesgerichtshof (Deutschland)
KSchG = Konsumentenschutzgesetz (Österreich)
NJW-RR = Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report
NVersZ = Neue Zeitschrift für Versicherung und Recht
OGH = Oberster Gerichtshof (Österreich)
OLG = Oberlandesgericht (Deutschland)
RRa = Reiserecht aktuell (Zeitschrift)
SpuRt = Sport und Recht (Zeitschrift)
VersR = Versicherungsrecht (Zeitschrift)
ZVR = Zeitschrift für Verkehrsrecht

[1] Vertiefende Erläuterung zum Jamtal-Urteil des OLG München mit zahlreichen weiteren Nachweisen findet sich in Röckrath VersR 2002, 1193.

[2] Vgl. Sicherheit im Bergland 2000, S. 93; Schnee und Lawinen 1999/2000, Jahresbericht des Tiroler Lawinenwarndiensts, S. 71 f.; Berg&Steigen 4/00 S. 28; Alpin März 2000; Unfalldarstellung und -bewertung aus Sicht des DAV im DAV Panorama 2/2000 S. 6 f.

[3] Nach der Ansicht von Hoi Berg&Steigen 01/02 S. 8: sind „Veranstaltungen dieser Art und Größenordnung ... um diese Zeit in dieser Höhe ein Unsinn.“

[4] Das Gutachten von Larcher ist stark gekürzt und verändert veröffentlicht in: Berg&Steigen, 4/01 S. 21. Das mündlich in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten weicht in einigen Punkten von dem schriftlichen Gutachten ab.

[5] LG Innsbruck SpuRt 2002, 106.

[6] Das Verfahren hat den Charakter eines Musterprozesses; mehrere andere Opfer und deren Versicherer, die Heilungskosten, Hinterbliebenenrenten etc. zahlen mußten, haben ebenfalls Ansprüche gegen den DAV Summit Club erhoben und warten den rechtskräftigen Abschluß des Musterverfahrens ab.

[7] OLG München RRa 2002, 57 = NJW-RR 2002, 694 = SpuRt 2002, 117. Anders die Erstinstanz: LG München I RRa 2001, 160 mit kritischer Anmerkung von Tonner.

[8] §§ 651a ff. dt. BGB, § 31b ff. öst. KSchG. [In der Druckfassung irrtümlich 31a]

[9] Bedient sich eine Vertragspartei zur Erfüllung des Vertrags der Hilfe anderer Personen, muß sie für deren Fehlverhalten einstehen, § 278 dt. BGB, § 1313a öst ABGB.

[10] Das OLG München RRa 2002, 57, 61 = NJW 2002, 694, 696 (unter I 6 b) läßt offen, ob der Entlastungsbeweis in richtlinienkonformer Auslegung nur auf bestimmte Gründe – insbesondere höhere Gewalt – gestützt werden kann.

[11] OGH EvBl. 1993, 198 = ZVR 1994, 305 (Lawinenunfall Wildes Hinterbergl): „Es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß der Beklagte als gegen Entgelt engagierter, geprüfter Berg- und Schiführer dem Sorgfaltsmaßstab des § 1299 ABGB unterliegt und ihm nach § 1298 ABGB der Beweis obliegt, daß er die nach § 1299 ABGB geforderte objektive Sorgfalt eingehalten hat.“

[12] Wallner Berg&Steigen 1/00 S. 26. Mayr, Sicherheit im Bergland 2000 S. 93: "Dieser Hang [nahe der Jamtalhütte] gilt zwar als Lawinenhang, 1931 ereignete sich der letzte tödliche Unfall, aus Gewohnheit wird dieser Hang immer wieder gequert."

[13] BGH NJW 2001, 1786, 1787; Wallner Sicherheit im Bergland 2000 S. 61.

[14] Rabofsky Zur Aufgabe des Sachverständigen und der Rechtsprechung bei Lawinenunfällen, ZVR 1981, 193, 194.

[15] OGH Öst. RZ 1971, 172 (Zischgeles).

[16] Munter 3x3 Lawinen (1997) S. 177. Vgl. Pichler Der Lawinenunfall zwischen toleriertem Risiko und rechtlicher Schuld, ZVR 1987, 33, 36.

[17] OLG München RRa 2002, 57, 61 f. = NJW-RR 2002, 694, 696 (unter I 6 c).

[18] Das Attribut "sicher" fand sich im Katalog des DAV Summit Clubs nur bei den Millennium-Veranstaltungen, nicht bei anderen Tourenwochen in den gleichen Tourengebieten.

[19] Österreich: OGH EvBl 1993, 198 = ZVR 1994, 305 (Wildes Hinterbergl); Öst. RZ 1971, 172 (Zischgeles); Schweiz: BGE 98 IV 168, 180; 91 IV 117 ff.; Pichler/Holzer Handbuch des österreichischen Skirechts (1987) S. 224.

[20] Pichler/Holzer (Fn. 19) S. 213 f.; Engler/Mersch DAV Panorama 1/2001 S. 63.

[21] Vgl. LG Innsbruck SpuRt 2002, 106, 108 (re. Sp. oben). Munter hat als Privatgutachter des DAV Summit Clubs die Hypothese der Spontanauslösung durch eine Windböe aufgestellt. Ein Beweis wurde dafür nicht angetreten.

[22] OGH Öst. RZ 1971, 172, 173; BGE 118 IV 130, 139. Die schweizerische Rechtsprechung hat insoweit die Interpretationshilfe zum Lawinenbulletin als maßgebliche Verkehrsnorm herangezogen.

[23] Das deutsche Recht ist gekennzeichnet durch die Zweigleisigkeit von vertraglicher und außervertraglicher (deliktischer) Schadensersatzhaftung mit jeweils eigenständigen Voraussetzungen und Rechtsfolgen. Nach der zum Unfallzeitpunkt geltenden Rechtslage (geändert mit Wirkung vom 1.8.2002) umfaßte der Schadensersatz bei Vertragsverletzungen kein Schmerzensgeld. Daher mußte der Senat auch die deliktische Haftung prüfen. Deliktisch haftet man nicht für fremdes, sondern nur für eigenes Fehlverhalten.

[24] Auch freiberuflich tätige Bergführer können als sogenannte Verrichtungsgehilfen des Reiseveranstalters zu qualifizieren sein und unterliegen in diesem Fall im besonderen Maße der Überwachung und Anleitung durch den Reiseveranstalter, vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 18.11.1999, Az.: 18 U 87/94 (unveröffentlicht), insoweit bestätigt durch BGH NJW-RR 2002, 1056; OLG München RRa 2002, 57, 63 f. = NJW-RR 2002, 694, 697 f. (unter Gründe II 6). [25] BGH NJW-RR 2002, 1056, 1057 (unter II 1 a) = SpuRt 2002, 195 = RRa 2002, 195 (mit Anmerkung Röckrath)

[26] Vgl. Munter 3x3 Lawinen (1997) und die Beiträge von Munter, Engler, Larcher und Geyer in Berg&Steigen 4/01. Expertendiskussionen: Lawinengefahr - Neue Beurteilungsmethoden Sicherheit im Bergland 1998, 37; Lawinenunfälle im Winter 1999/2000; Risikomanagement mit "Stop or Go", Sicherheit im Bergland 2001, 49 ff.; Kronthaler Sicherheit im Bergland 2001, 163 ff.

[27] Vgl. Larcher Berg&Steigen, 4/99; 4/00; 4/01.

[28] Vgl. die mündlichen Ausführungen des Gutachters lt. Protokoll der Hauptverhandlung im Strafverfahren.

[29] Anderer Ansicht Hoi Sicherheit im Bergland 2000, S. 66 ohne Begründung. Vgl. auch Munter Berg&Steigen 4/01 S. 35: Die schweren Unfälle der Vergangenheit mit vielen Toten – darunter auch das Jamtalunglück - beruhen auf der Eingehung überhöhter Risiken.

[30] Demnach ist jeder Bergführer stets verpflichtet, den amtlichen Lawinenlagebericht einzuholen. Er darf die Gefahrenstufe nur noch unter sehr engen Voraussetzungen nach den örtlichen Gegebenheiten absenken. Die Gäste sind darüber in Kenntnis zu setzen.

[31] DAV Panorama Nr. 2/2001, S. 12 f. Vgl. auch Führen im winterlichen Hochgebirge - Zusammenfassung der Gesprächsergebnisse der Expertenrunde auf der Jamtalhütte vom 22.09.-24.09.2000 (unveröffentlichtes Papier). Außerdem sind absolute Hangneigungslimits zu beachten, die relativ großzügig bemessen wurde, und grundsätzlich keine weitere Einschränkung bedeuten, sondern lediglich ein zusätzliches Sicherheitsnetz bei Fehlern in der Anwendung der Reduktionsmethode gewährleisten. Vgl. dazu Munter Berg&Steigen 4/01 S. 35.

[32] Gabl Sicherheit im Bergland 2000, 49; Hoi Sicherheit im Bergland 2000, 66.

[33] LG Innsbruck SpuRt 2002, 106, 107 (li. Sp.). In Österreich stand man der Reduktionsmethode von Anfang an skeptischer gegenüber, auch oder sogar gerade im Hinblick darauf, daß sie den Gerichten die nachträgliche Überprüfung von Bergführerentscheidungen erlaubt. Dieses Bedenken wurde vom späteren Gutachter im Jamtal-Strafverfahren schon 1997 in einer Expertendiskussion geäußert, vgl. Sicherheit im Bergland 1998, 37, 43. Vgl. auch Gidl, Seminarbericht, aaO (Fn. 42) S. 54 ff.; Zobl/Ladstätter Sicherheit im Bergland 2001, 157, 162. Mair bezeichnet den Zusammenhang zwischen den Lawinenrisiko und der Hangneigung als eine der "ältesten Lawinenweisheiten", bei kritischen Verhältnissen (ab Stufe 3) seien Hänge über 35 Grad zu meiden. Schnee und Lawinen 1996/97, Jahresbericht des Tiroler Lawinenwarndiensts, S. 41; vgl. auch Schnee und Lawinen 1999/2000 S. 110.

[34] Geyer/Pohl: Alpin Lehrplan Band 4: Skibergsteigen, Variantenfahren, hrsg. u.a. vom DAV und VdBS (1998) S. 125: „Die Reduktionsmethode: Da die Formel 3x3 nur qualitative Anhaltspunkte zur Gefahreneinschätzung gibt, ist sie mit der Reduktionsmethode nach MUNTER zu kombinieren. Diese liefert einen Zahlenwert, mit dem man sein statistisches Risiko beurteilen kann, und bietet einen Maßstab, der eine eindeutige Entscheidung erlaubt.“

[35] Vgl. Bericht über einen Vortrag Munters in München auf Einladung der Sektion Oberland im DAV Panorama 1/1999 S. 8: „Munters Reduktionsmethode ist bei aller internationalen Expertenvielfalt nicht nur unumstritten, sondern der mit Beifall bedachte offizielle Stand der Lehrmeinung.“

[36] Vgl. Engler/Mersch DAV Panorama 1/2001 S. 62: „Vier Jahre ist es her, seit der DAV die Lehre von Werner Munter in sein Ausbildungskonzept übernommen hat.“

[37] BGHZ 106, 273 (Aerosol); 80, 186 (Apfelschorf); Graf von Westphalen-Foerste Produkthaftungshandbuch (1997) § 24 Rn. 24.

[38] OLG München RRa 2002, 57, 65 f. = NJW-RR 2002, 694, 699 (unter II 10 d).

[39] Vgl. Pichler ZVR 1987, 33, 34.

[40] Vgl. Berg&Steigen 1/02 S. 8.

[41] Vgl. Privatgutachten Munter im Jamtalprozeß.

[42] Beulke Das rechtliche Problem alpiner Risiken dargestellt am Thema "Sicherung auf Gletschern", in Seminarbericht Winteralpinismus - Rechtsfragen, Seminar Kühtai Januar 2000 (hrsg. Von DAV und OeAV) S. 69 ff.

[43] Für Bergführer besteht z.B. in Tirol die Pflicht, eine Berufshaftpflicht zu unterhalten. Alpine Vereine sollten für ihre ehrenamtlichen Führungskräfte eine entsprechende Versicherung abschließen, denn die Privathaftpflicht tritt in der Regel nicht ein, vgl. OLG München NVersZ 2001, 288.

[44] Zu Konsumentenverträgen vgl. § 1 öst. KSchG und § 310 Abs. 3 dt. BGB.

[45] Vgl. § 651 h dt. BGB für den Reisevertrag, im übrigen §§ 309 Nr. 7 dt. BGB; 6 Abs. 1 Z. 9 öst. KSchG, 879 Abs. 3 öst. ABGB. Die Vorschriften beruhen auf Anhang Nr. 1 a zu Art. 3 Abs. 3 der EU-Klausel-RL.

[46] Vgl. OLG Hamm VersR 1995, 309 (Segelfliegen); anders dagegen OLG Koblenz NJW-RR 2002, 1252 (Fallschirmspringen). Problematisch ist die vom Hauptausschuß des DAV auf seiner 134. Sitzung am 12./13.7.2002 beschlossene einheitliche Haftungsbegrenzungserklärung, vgl. DAV Forum 3/2002 S. 9. Ein vorformulierter Text verliert auch durch individuelle Unterzeichnung nicht seinen Charakter als Allgemeine Geschäftsbedingung.